Novartis Interview mit Erik Wirz

Tagesanzeiger, Novartis, bei Novartis geht die Angst um

Erik Wirz im Interview mit dem Tagesanzeiger  von Isabell Strassheim

Bei Novartis geht die Angst um

Vas Narasimhan hat das Renditeziel enorm nach oben geschraubt. Doch die Entwicklung neuer Medikamente läuft stockend. Auffällig viele Angestellte wollen weg.
Das Gerücht ist falsch, und doch hält es sich seit Monaten in unterschiedlichen Kreisen der Schweizer Pharmaszene: Novartis-Chef Vas Narasimhan habe im vergangenen Jahr ein Managementtreffen abgebrochen, an dem zu viel Kritik geäussert worden sei. Und dies, obwohl er seit seinem Antritt als Novartis-Chef für eine offene Unternehmenskultur steht und Eigenständigkeit und Kritik gerade einfordert.
 Ausgerechnet der Unboss wird als Boss im alten Stil dargestellt. Was läuft da schief?


Narasimhan hat nie ein Treffen abgebrochen, egal auf welcher Stufe. Mehr noch, er hat die Kritik sogar institutionalisiert: Alle drei Monate hält Novartis unter dem Titel «Our Voice» eine Umfrage unter Mitarbeitenden ab, bei der sie Fragen und Kritik am Chef äussern können, wenn gewollt auch anonymisiert über ein allgemeines Onlinepostfach.

«Unser klares Bestreben ist, das vertrauens­würdigste und am meisten geschätzte Arzneimittel­unternehmen zu werden.»

Vas Narasimhan, Novartis-Chef

Doch die Angstkultur, die Narasimhans Vor-Vorgänger Daniel Vasella dem Basler Pharmakonzern eingebrannt hat, ist geblieben. Sie spitzt sich sogar weiter zu. Das hat mehrere Ursachen. Der Hauptgrund ist das ehrgeizige Renditeziel. Narasimhan will Novartis, die am Dienstag ihre Halbjahreszahlen vorlegt, bis 2027 auf eine Betriebsgewinnmarge von 40 Prozent bringen. Zurzeit liegt sie bei 31,8 Prozent.


Narasimhans Ziel ist nicht weniger, als Novartis weltweit an die Spitze zu führen: «Unser klares Bestreben ist, das vertrauenswürdigste und am meisten geschätzte Arzneimittel­unternehmen zu werden», sagte er an der letzten Bilanzmedienkonferenz.

Überwachung der Mitarbeitenden

Damit die Produktivität möglichst konstant hoch ist, werden die 105’000 Mitarbeitenden überwacht. Wie schon bei der Homeoffice-Pflicht während der Pandemie misst Novartis die Tätigkeiten. «Wir nutzen die Arbeitsplatzanalyse von Microsoft», bestätigt Novartis-Sprecher Satoshi Sugimoto.

Die Daten sind anonymisiert und werden gebündelt, sodass im Minimum ein Team von dreissig Angestellten analysiert wird. Laut Sugimoto soll das «evidenzbasierte Signale zur Verbesserung des Engagements, der Zusammenarbeit, der Integration, des Wohlbefindens und der Produktivität der Organisation» bringen.


Die Stimmung, die unter dem vergangenen Sommer angekündigten Abbau von 8000 Stellen gelitten hat, ist laut der Umfrage unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zwar wieder gestiegen. Aber mehrere Headhunter in der Schweiz berichten übereinstimmend, dass auffällig viele Angestellte in ungekündigter Stellung von Novartis wegwollen.

 «Zum Teil gehen Schlüsselpersonen und ziehen ganze Teams nach sich», sagt Erik Wirz von der Kadervermittlerin Wirz & Partner. Novartis will das weder bestätigen noch dementieren.

 

«Momentan wollen bei Novartis sogar mehr Führungsleute die Pharmasparte verlassen als bei der Generikadivision Sandoz», sagt Wirz.

 

Dabei wird Sandoz, die kostengünstige Nachahmer­medikamente herstellt, noch dieses Jahr abgespalten.

Der Strahlemann kommt kaum noch an

Novartis-Chef Narasimhan war 41-jährig, als er 2018 antrat, und galt schnell als Kultfigur. Er war derjenige, der eine neue, agilere Unternehmenskultur am lautesten propagierte. Noch heute gibt er sich auf sozialen Medien höchst innovativ und spricht darüber, dass er sich als «Chief Energy Officer» von Novartis sehe. Mitarbeitende brauchten Energie, um die «Extrameile» zu gehen. Dafür müsse der Chef ein Vorbild sein.

Der Strahlemann Narasimhan kommt jedoch kaum noch an. Novartis gilt in der Schweizer Pharmaszene nicht als Beispiel für Vertrauen, Selbstständigkeit und offene Kultur, wie Gespräche mit unterschiedlichen Headhuntern, Beratern und Analysten zeigen. Und immer wieder ist zu hören, dass Mitarbeitende Angst haben. Denn der geschäftliche Druck auf sie ist stark gestiegen, denn für die neue Novartis wird es nun ernst.

Mit dem Konzernumbau ist Narasimhan zwar am Ziel. Novartis ist von Sandoz und einer Reihe weiterer Nebengeschäfte freigeschält. Dies kommt aber zum ungünstigsten Zeitpunkt: Der US-Markt, mit dem das Gewinnmodell der Pharmaindustrie steht und fällt, verändert sich gerade durch die Inflation Reduction Act. Die Regierung von Joe Biden begrenzt damit die Medikamentenpreise.

Bald laufen die Patente aus

Bei Novartis rumpelt es zurzeit. Im laufenden Jahr werden die Umsätze zwar vor allem dank guter Verkäufe des Herzmedikaments Entresto weiter steigen. Deshalb hat Narasimhan die Ziele für das laufende Jahr.

Hier lauert die Generikaindustrie, um möglichst schnell mit einer günstigen Kopie auf den Markt zu kommen. Laut Novartis waren es schon im September 18 Firmen. Das ist wenig erstaunlich, denn Entresto gehört mit geschätzten über 5 Milliarden Dollar Umsatz zu den umsatzstärksten Medikamenten der Pharmaindustrie überhaupt.

Narasimhan versucht, die Konkurrenz mit Rechtsverfahren so lange wie möglich fernzuhalten, wie das in der Branche üblich ist.

 

Die Umsätze des Herzmedikaments könnten schon früher als gedacht zu bröckeln beginnen. Der Druck auf Novartis, neue Medikamente zu lancieren, steigt damit. Unmittelbar nach dem Gerichtsentscheid bekräftigte Narasimhan sein Wachstumsziel bis 2027. Nun müssen er und vor allem auch die Novartis-Angestellten den Umsatz zur Not auch ohne Herzmittel stemmen. 

Novartis’ zweiter Bestseller ist Cosentyx, eine Antikörpertherapie gegen Schuppenflechte und Arthritis. Der Umsatz beläuft sich auf knapp 5 Milliarden Dollar. Ab 2029 * laufen jedoch die Patente aus. Nun lässt Narasimhan Cosentyx zur Behandlung weiterer Krankheitsfelder testen, um so neue Patente zu gewinnen. Das ist in der Industrie üblich und heisst Lifecyclemanagement.

 

Missgeschick bei wichtiger Therapie

 

Novartis ist aber vor allem auf die Entwicklung neuer Medikamente aus. Dazu hat Narasimhan den Konzern auf fünf hochinnovative Technologie­plattformen ausgerichtet. «Hier wird das künftige Rennen des Pharmasektors entschieden, und wir wollen uns so positionieren, dass wir gewinnen», sagt er.


Mit Ankündigungen neuer, grosser Medikamente spart der Novartis-Chef nicht. Ende 2021 präsentierte er Investoren eine Liste mit gleich zwanzig neuen Therapien, die jeweils einen jährlichen Umsatz von mindestens einer Milliarde Dollar bringen sollen. Einige sind schon auf der Strecke geblieben. Das gehört bei der Forschung und Entwicklung naturgemäss zum Geschäft.

Doch Novartis unterlaufen auch Missgeschicke: Bei der von der chinesischen Beigene einlizenzierten Therapie Tislelizumab gegen eine Lungenkrebsart lehnte die US-Zulassungsbehörde einen Antrag ab, weil bei der klinischen Studie zu wenige US-Probanden beteiligt waren.

Ziel: Jährlich 4 Prozent mehr Umsatz

Bis 2027 soll der Umsatz jährlich im Schnitt um 4 Prozent wachsen. Ohne neue Medikamente, die es bis dahin auf den Markt schaffen, oder eine Ausweitung bestehender Therapien auf die Anwendung bei weiteren Krankheiten geht das nicht. Die Hoffnung liegt besonders auf Kisqali, einer Therapie gegen Brustkrebs. Hier kamen Anfang Juni neue Studienergebnisse, die die Aktie steigen liessen. Kisqali wirkt nicht nur bei Brustkrebs im fortgeschrittenen, sondern auch im frühen Stadium. Die Verkäufe könnten damit deutlich zulegen.

Doch wer sich die erfolgreichen Studienergebnisse zu Kisqali genauer anschaut, kann ins Zweifeln geraten. Frauen müssen die Tablette über drei Jahre jeden Tag einnehmen, damit bei ihnen das Risiko um 25 Prozent sinkt, in 10, 20 oder 25 Jahren erneut an Brustkrebs zu erkranken. «Ärzte und auch die Patientinnen werden das kritisch sehen, ist doch Kisqali wie jedes andere Medikament nicht frei von Nebenwirkungen», sagt Michael Nawrath, Pharmaanalyst beim Zürcher Finanzdienstleister Octavian.

Novartis bleibt unter enormem Erfolgsdruck. Für Narasimhan ist die Zeit bis nach 2025 selbst bei Rückschlägen gesichert. Denn dann scheidet Verwaltungsratspräsident Jörg Reinhardt wegen Amtszeitbegrenzung aus. Bis dahin wird er seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger keine neue Novartis-Führung vorschreiben wollen.

* In einer ersten Version dieses Berichtes hiess es, ab 2025. Novartis hat jedoch eine Patentfristverlängerung in den USA bis 2029

Isabel Strassheim ist seit 2019 Wirtschaftsredaktorin bei Tamedia. Sie berichtet aus Basel vor allem über die Pharma- und Chemiebranche. Mehr Infos

 

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